18.10.2002 - Träume von Beutelwolf - Teil 1

Eine fast wahre Erzählung von Heinz F. Moeller

1.Kapitel
Eine Begegnung im Museum

Heiner erinnert sich noch genau wie alles begann ...Es war ein kalter, regnerischer Sonntagvormittag im November - das richtige Wetter für einen Besuch im Museum. Vater erfüllte seinem Jüngsten einen langersehnten Wunsch, und so fuhren sie gemeinsam zum Naturkundemuseum in der Invalidenstraße. Heiner betrat das alte Gebäude nicht zum ersten Mal, er wußte, wo die Skelette der Saurier standen; der größte von ihnen trug seinen Kopf nahezu 12 m hoch. Damals hatte Vater gesagt: "Gerade so als würde man drei Giraffen übereinanderstellen". Doch Heiner konnte sich das nicht recht vorstellen, ihm gefiel viel besser, was er von einem Museumswächter aufgeschnappt hatte, als dieser alte Mann in Uniform offenbar eine Schülergruppe beeindrucken wollte: "Det Vieh könnte glatt die Geranien vom Balkon in der dritten Etage abfressen ...".

Tasmanischer Tiger mit Nachwuchs

Heute steuerte sein Vater an der Saurierhalle vorbei hin zur Galerie der großen Säugetiere; hier stand das Präparat von einem riesigen indischen Panzernashorn, das früher einmal im Berliner Zoo gelebt hatte, und aus Afrika stammten der massige Kaffernbüffel und die Kudu-Antilope mit ihrem Korkenziehergehörn. Eine halbe Stunde später hatten sie den großen Raum verlassen und schauten sich die Affen an. Heiner machte einen Bogen um die Vitrine von "Bobby", die kleinen tiefliegenden Augen des muskelbepackten Gorillas erschienen ihm zu unheimlich, und sie gelangten bald zu den Beuteltieren; da standen Koalas, Wombats und Känguruhs nebeneinander. Känguruhs kannte er vom Zoologischen Garten, dort wohnten sie im Straußenhaus, ein großer Tempelbau mit hohen Säulen, dessen Wände mit Gemälden von Jagdszenen aus dem alten Ägypten verziert waren. Die Museums-präparate hatten wenig Ähnlichkeit mit den Känguruhs im Zoo; sie wirkten gar nicht lebendig, sondern sahen unnatürlich steif aus, - schließlich waren sie ja auch ausgestopft; Heiner mochte lebende Tiere ohnehin viel lieber. Dann standen sie vor dem Präparat eines braunen hundeähnlichen Tieres mit eigenartigen dunklen Querstreifen.

Tassie Tiger

"Das ist ein Beutelwolf", meinte Vater, "so eine Art Känguruh in Wolfsgestalt ...". Heiner fiel ihm ins Wort: "Meinst Du, ne Kreuzung
zwischen Wolf und Känguruh? Geht das überhaupt?" Sein Vater verneinte: "Innerhalb der vielen Beuteltiere gibt es auch eine Art, die Ähnlichkeit mit
einem Wolf hat, der Koala sieht ja auch wie ein kleiner Bär aus, und der Beutelmarder ähnelt einem Marder." Der Siebenjährige konnte sich das nicht alles merken, es waren auch wirklich zu viele Namen, als daß man sie alle hätte behalten können: Neben den Beutelmardern gab es da noch zwei Beutelgleithörnchen, die auf kleine Äste mit Holzpodesten montiert waren, einen Beutelmaulwurf und sogar Beuteldachse; wie Dachse sahen die jedoch gar nicht aus, und dann waren sie auch viel kleiner. Vater, der den Text überflogen hatte, bemerkte noch: "Der Beutelwolf ist inzwischen
wahrscheinlich ausgestorben - hat sich bei den Schäfern unbeliebt gemacht ...". Dann ging er weiter, um einen Bekannten zu begrüßen; Heiner wurde mit einer Kopfbewegung bedeutet, in einiger Entfernung zu warten, und so lief er zurück zum Beutelwolf und begann, den langen Text zu lesen. Er lernte, daß dieser eigentümliche "Beutelhund" auf Tasmanien lebte - einer Insel bei Australien, und er sollte, wie die anderen Beuteltiere auch, seine Jungen in einer Bruttasche aufziehen ... Bei diesem Tier war sie aber nicht vorhanden, nur ein fellbedecktes kugeliges Gebilde hing zwischen den Hinterbeinen. Fachkundig registrierte Heiner, daß es sich um ein Männchen handelte, - und das brauchte ja wohl keinen Brutbeutel. Als er den Kopf mit den runden Ohren genauer betrachtete, schienen ihn die großen dunklen Glasaugen anzusehen. Eine seltsame traurige Empfindung überkam ihn, ähnlich wie damals, als er sein Kaninchen eines Morgens tot im Stall fand - und in die offenen starren Augen schaute. Unwillkürlich wandte er sich ab, er mochte nicht an seinen kuscheligen Liebling erinnert werden. Dennoch zog es ihn wieder zurück, er mußte noch einmal in die künstlichen Augen blicken, - das bedrückende Gefühl war wieder fort. Erleichtert las Heiner den Text weiter: "... lebte vom 10. Juni bis 14. November 1864 im Berliner Zoo". Er stutzte, war heute nicht der 14.? Natürlich, denn sein Großvater hatte morgen Geburtstag. Noch ganz verwirrt von diesem merkwürdigen Zufall überlegte Heiner: Von 1864 bis 1943, das sind ..., er zog Bleistiftstummel und Notizblock aus der Hosentasche und rechnete, das ergab 79; dieser Beutelwolf war also heute vor 79 Jahren hier im Zoo gestorben. Das mußte er unbedingt Vater sagen, aufgeregt sprudelte er sein Wissen heraus. Heiners Vater war die Unterbrechung willkommen, und der Bekannte verabschiedete sich rasch. Dieses Mal blieben sie länger vor dem ausgestopften Tier stehen, und Vater meinte, daß der Schwanz so ähnlich aussehe wie bei einer Dogge, nur etwas dicker, und die Beine seien auch kürzer. Doch auf den ersten Blick war da schon eine große Ähnlichkeit mit einem Hund, obwohl es ja eigentlich ein Beuteltier war, so daß der Name Beutelhund oder Beutelwolf gar nicht schlecht gewählt war.

Nach dem Mittagessen daheim bestand Heiners Mutter darauf, das angefangene Bild - ein Segelschiff für den Großvater - fertigzumalen, und so vergaß er rasch die Begegnung mit dem Beutelwolf.

(Fortsetzung folgt)

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