27.07.2004 - Träume vom Beutelwolf - Teil 3

Tassie Tiger-TraumDer zweite Traum: Die Überfahrt

Wieder träumte der kleine Junge, daß er sich im Museum vor dem Beutelwolfpräparat befand, ungeduldig fragte er: "Wie lange bist Du eigentlich bei dem Trapper geblieben?" Und wieder schien das präparierte Tier zu ihm zu sprechen: "Das weiß ich nicht mehr genau, es mögen zwei oder drei Wochen gewesen sein. Eines Tages hörte ich eine fremde Stimme, und ein unbekanntes Gesicht erschien vor den Spalten meiner Kiste. Verschreckt zog ich mich in die entfernteste Ecke zurück und drohte mit aufgerissenem Maul den Besucher an. "Ein schönes Tier habt Ihr da", sagte der Fremde, "wieviel wollt Ihr dafür haben?"

Und so wechselte ich für zwei Pfund Sterling (das sind ungefähr 300 Mark) den Besitzer. Ich mußte in eine kleine Transportkiste umziehen, die auf ein Lastpferd gebunden wurde; an der Seite hingen zwei große Bündel getrockneter Felle. Dann ging es über unwegsame steinige Pfade nach Süden, auch steile Berghänge mußten überwunden werden. Die Kiste schwankte und schaukelte bei jedem Schritt; da ich keinen Halt finden konnte, rutschte ich halb liegend halb stehend auf den Bodenbrettern hin und her, so daß meine Pfoten bald schmerzten. Endlich machten wir Rast, und der Pelzhändler gab mir etwas Fleisch – vor allem aber Wasser in einer kleinen Blechschüssel. Während der Nacht hörte ich die vertrauten Geräusche des Waldes, das Zirpen der Grillen und auch den Ruf einer Eule. Einmal umschlich sogar ein Beutelteufel unser Lager: Immer wieder war sein lautes Schnaufen zu hören, unterbrochen von Niesgeräuschen. Die beiden Pferde wurden unruhig und zerrten an ihren Stricken. Der vom Lärm aufgeweckte Mann fluchte und warf einen Stein in den Busch; ein durchdringendes "Grölen" war die Antwort, dann zog sich der unwillkommene Gast zurück.

Tassie Tiger-Traum

Am folgenden Tag erreichten wir die Stadt Hobart und kamen zum Hafen, wo man mich in eine geräumigere Kiste schob, in der ich aufrecht stehen und sogar ein paar Schritte laufen konnte. Man brachte mich auf ein Schiff, das zwischen Hobart und Melbourne verkehrte, und ich machte meine erste Seereise. In Melbourne verlud man meine Kiste auf ein größeres Schiff. Es war ein alter Viermastsegler, der Schafwolle nach England bringen sollte; hunderte riesiger Wollballen wurden von schwitzenden und schimpfenden Männern an Bord geschleppt und im Laderaum verstaut. Dazu kamen neben ein paar Kisten mit Hühnern, die man in einem Verschlag unterbrachte, auch einige Schafe mit aufs Schiff. In einem provisorischen Pferch, den man an Deck aus ein paar groben Brettern zusammengenagelt hatte, ließ man den Tieren kaum mehr Bewegungsfreiheit als mir in meiner Kiste. Schließlich brachte man noch eine Anzahl weiterer verschieden großer Holzbehälter an Bord, die ebenso wie meine Behausung an einer Seite Luftschlitze aufwiesen; man stellte sie ganz nahe zu mir. Eine der kleineren wurde auf meine draufgesetzt; wie ich am Geruch erkannte, beherbergten sie Beutelmarder." Rasch blickte Heiner in eine der benachbarten Vitrinen, ja, da standen welche, einer hatte hellbraunes, der andere schokoladenfarbenes Fell, das mit wunderhübschen weißen Flecken gemustert war. Inzwischen hatte der Beutelwolf weitergesprochen: "... diese Burschen (er meinte zwei Beutelteufel) waren in einer ganz besonders stabilen Kiste untergebracht, mit Eisenstangen an der Vorderseite. Fortwährend hörte man ihr lautes Niesen und Schnaufen, und wenn sich jemand den beiden näherte, um ihnen Nahrung und Wasser zu geben, begannen sie zu grölen – ein furchtbares Geräusch, das ähnlich klang wie die Laute betrunkener Seeleute. In einer ebenfalls großen stabilen Kiste wohnte ein Wombat. Auch ihn erkannte ich deutlich an seinem durchdringenden Geruch. Nacht für Nacht scharrte und kratzte er an den dicken Brettern des Kistenbodens, er biß und nagte mit seinen scharfen Zähnen an den Wänden. Nach einigen Tagen war tatsächlich ein großes Loch entstanden, das aber rechtzeitig entdeckt und vom Schiffszimmermann zugenagelt wurde.

Tassie Tiger-TraumDann gab es noch ein paar Riesenkänguruhs, die sich jedoch in ihren Unterkünften ruhig verhielten. Ganz anders die Vögel: Zehn Kakadus hatte man in einen Transportkäfig gestopft; sie krächzten tagsüber nahezu ununterbrochen–, vor allem wenn sie Futter und Wasser erhielten, war der Lärm kaum zu ertragen.
Matrosen hatten die Tierkisten auf dem hinteren Teil des Schiffsdecks aufgestellt und mit dicken Seilen fest zusammengebunden. Es war Januar, also Sommerzeit in Australien; gegen die brütende Sonne wurde eine Plane schräg über uns gespannt, dennoch war es tagsüber heiß und stickig. Eines Abends begann das Schiff heftig zu schwanken, erschrocken fuhr ich auf, es wurden die Anker gelichtet, dann setzten wir uns in Bewegung und verließen Australien. Die folgenden zwei Wochen verliefen für mich fast ohne Ereignisse, meist dämmerte ich in meinem Gelaß vor mich hin, dann wieder trieb mich die Unruhe: Zwei Schritte bis zur einen Wand, eine enge Drehung, dann wieder zwei Schritte zur gegenüberliegenden Seite. Um möglichst den ganzen Platz zum Laufen ausnutzen zu können, wendete ich erst dicht vor der Wand und senkte meinen Kopf, so daß eine Schulter die Bretter berührte.

Tassie Tiger-Traum

Eines Nachts erwachte ich vom starken Schlingern des Schiffs, die Schaukelbewegungen wurden immer stärker, Laternen blinkten an Bord, Stimmen riefen durcheinander, und die Seeleute zogen die Taue um unsere Behälter fester. Dann war es wieder stockfinster, man hatte uns mit einer großen Plane zugedeckt. Dennoch trieben aufkommende Windböen Spritzer von Meerwasser in meine Unterkunft; sie schmeckten unangenehm bitter und salzig, als ich mich trockenleckte. Es begann heftig zu regnen, laut trommelte es auf die derbe Plane. Immer stärker schaukelte das Schiff, schließlich wurde es von den hohen Wellen förmlich hin und hergeworfen. Bald fand ich in meiner Kiste keinen Halt mehr; so sehr ich mich auch in einer Ecke festzustemmen versuchte, es war zwecklos, wie ein Bündel rutschte ich immer wieder gegen die Wände meiner hölzernen Behausung. Hin und wieder übertönte das Kreischen der ängstlichen Kakadus das Trommeln des Regens und das Brausen des Sturms. Das war mein schlimmstes Erlebnis", sagte der Beutelwolf, und er schien einen Augenblick nachzudenken. "Doch nein, da gab es noch "Jimmy", einen Matrosen, der eine ganz besondere Vorliebe für die gefangenen Tiere entwickelte. Sobald er sich unbeobachtet glaubte, schlich er zu uns, griff nach dem eisernen Schieber, mit dem unsere Kisten gereinigt wurden, und wenn ein Tier gerade schlief, dann stieß er es mit dem Werkzeug heftig in die Seite. Er hatte seinen grausamen Spaß daran, wenn z. B. der Wombat erschrocken auffuhr und in panischer Angst mit der Schnauze gegen die Wand raste. Das erste Mal, als er auch nach mir stieß, biß ich in die Eisenstange, dabei brach eine Zahnspitze ab, und der Zahn schmerzte mehrere Tage. Da ich das folgende Mal auf seine Quälereien nicht mehr reagierte, verlor er glücklicherweise sein Interesse an mir. Den beiden Beutelteufeln erging es schlechter, denn ihr jaulendes Grölen schien Jimmy ganz besonders anzuziehen. Vor allem, wenn sich ein Tier in der Stange verbiß, zerrte er es hin und her, so daß Lippen und Nase verletzt wurden und bluteten. Einmal achtete er bei seinen Quälereien nicht auf den zweiten Beutelteufel, und als er seine Hand, welche die Stange führte, mit in den Käfig schob, wurde er kräftig gebissen. Die Verletzung war so schwer, daß er einen Finger verlor; später, als er keinen Verband mehr trug, konnte ich es deutlich sehen. Von nun an hatten wir Ruhe vor dem Matrosen, es wurde ihm streng untersagt, auch nur in die Nähe der Tierkäfige zu kommen.Die Beutelteufel sorgten noch ein zweites Mal für Aufregung. Es muß kurz nach dem Vorfall mit Jimmy gewesen sein, als es einem dieser schwarzen Gesellen gelang, eine Käfigstange so zu verbiegen, daß sie sich aus ihrer Halterung löste; er entwich und öffnete mit seinem furchtbaren Gebiß mühelos den Hühnerverschlag ... Am nächsten Morgen fand man ihn blutverschmiert schlafend zwischen 28 toten Hühnern; er hatte zwar nur eins halb aufgefressen, aber in seinem Blutrausch alle getötet. Der Ausbrecher wurde wieder in seinen Käfig zurückgebracht, den man zusätzlich mit weiteren Gitterstreben verstärkte. Die Hühner– wie auch die Schafe – hatte man vor allem für unser leibliches Wohl mitgenommen, denn Beutelmarder, Beutelteufel und auch ich erhielten ausschließlich Fleisch. Von nun an waren wir auf Hammeldiät gesetzt, und die Besatzung mußte auf Eier verzichten.

Tassie Tiger-TraumEinige Wochen später wurde es unerträglich heiß, wir durchquerten die tropischen Breiten; mehrere Male lief unser Schiff einen Hafen an, um Wasser und Verpflegung aufzunehmen, – auch neue Hühner kamen an Bord. Uns, den Raubbeutlern, gab man bei dieser Gelegenheit nicht mehr ganz frischen Fisch, den aber nur die Beutelteufel fraßen. Etwa drei Monate dauerte nun schon unsere Reise auf dem Frachter, als es allmählich unangenehm abkühlte. Wieder deckte man unsere Kisten mit Planen ab, und mir schob man etwas mehr Stroh als sonst in meine Schlafecke. Ich trat und scharrte es zu einer Art Nest zusammen, in dem es angenehm warm wurde."

Heiner erwachte, die Bettdecke lag zusammengedrückt am Fußende; seine Mutter strich ihm besorgt über die feuchte Stirn: "Hast Du schlecht geträumt?", fragte sie. Heiner nickte abwesend. Dann nahm der Tag seinen Lauf: Waschen, Anziehen, Frühstücken, und mit der Straßenbahn ging es zur Schule. Am Nachmittag während der Hausaufgaben kamen ihm wieder die Erlebnisse des Beutelwolfs ins Gedächtnis, und als Vater abends aus der Praxis kam, frug Heiner ihn, wie lange man denn so mit einem Segelschiff von Australien bis hier unterwegs wäre. Sein Vater, von der unerwarteten Frage überrascht und auch etwas verlegen, da er sie nicht sofort beantworten konnte, sagte nach kurzem Nachdenken : "So etwa zwei Monate."

Tassie Tiger-Traum

Dann schlug er in einigen Büchern und im Atlas nach: Bevor 1869 der Suezkanal eröffnet wurde, brauchte man von Melbourne bis Hamburg je nach Windverhältnissen 90 – 100 Tage, denn man mußte ganz Afrika umfahren. Manchmal segelten die Schiffe auch vom Südkap Afrikas zunächst nach Brasilien, um dort frische Lebensmittel und Trinkwasser aufzunehmen, denn die afrikanische Westküste wurde erst später kolonisiert. Und als sein Sohn fortfuhr, "sag" mal Vati, die ganzen Tiere im Zoo, ich meine, die aus fremden Ländern mit dem Schiff herkamen, die haben unterwegs sicher viel leiden müssen", dämmerte es seinem Vater, und er erinnerte sich an den gemeinsamen Museumsbesuch am letzten Sonntag: "Du denkst wohl noch immer an den Beutelwolf?" Der kleine Junge nickte, und sein Vater, der naturwissenschaftlichen Dingen gegenüber aufgeschlossen war, freute sich über das Interesse seines Sohnes.

Zur Übersicht