05.04.2003 - Träume von Beutelwolf - Teil 2

Der erste Traum: Gefangen

In der folgenden Nacht träumte Heiner, er wanderte noch einmal durch die Säle des Naturkundemuseums, doch dieses Mal allein. Und wieder blieb er vor dem Beutelwolf stehen; der war jedoch nicht mehr in seiner Glasvitrine eingesperrt, sondern stand frei auf einem Podest. Ganz deutlich vernahm der kleine Junge eine Stimme, die von dem Präparat her kam, allerdings bewegten sich die Lippen nicht, und auch der Kiefer blieb geschlossen: "Ich habe Dich heute gesehen und Dein Mitleid gespürt", schien er zu sagen; gebannt blickte Heiner auf das Tier. "Ich möchte Dir etwas über mein Leben erzählen, und Du sollst mehr erfahren als andere Menschen." Zunächst empfand der kleine Junge ein wenig Furcht, doch rasch hatte er sich gefaßt und nickte. Zaghaft fragte er den Beutelwolf, ob dieser denn wirklich schon vor 79 Jahren hier im Zoo gelebt habe, und wie er denn in Gefangenschaft geraten sei.

Tassie-Traum: GefangenDas Tier antwortete, obwohl Heiner auch dieses Mal nicht die geringste Bewegung erkennen konnte: "Als ich in den Berliner Zoo kam, war ich schon neun Jahre, – das ist für Beutelwölfe ein hohes Alter." Er machte eine Pause und schien einen Augenblick nachzudenken, dann fuhr er fort: "Ich lebte in den Tasmanischen Wäldern. Eine Woche zuvor war eine meiner Schwestern von einem Schäfer getötet worden. Das hatte der Familie den Appetit auf Lamm gründlich verdorben, und wir zogen uns tief in den Busch zurück. Vor ein paar Tagen hatte ich Mutter und Schwester verlassen, denn wenn wir weiter zusammenblieben, gab es für uns zu wenig Nahrung; manchmal stritten wir uns schon um ein kleines Rattenkänguruh, das unsere Mutter gefangen hatte. Du mußt wissen", erläuterte er, "Rattenkänguruhs sind etwa so groß wie Kaninchen, und davon konnten wir drei natürlich nicht satt werden. So machte ich mich allein auf Nahrungssuche. Doch bisher hatte ich lediglich ein paar Mäuse gefangen, einen kleinen Nasenbeutler überrascht und ein Nest mit drei jungen Erdsittichen ausgegraben, allerdings machte die spärliche Nahrung meinen Hunger nur noch größer. Ich stöberte durch das Unterholz, als mir plötzlich der Duft von frischem Fleisch in die Nase stieg. Hatte da ein anderer Beutelwolf mehr Glück bei der Jagd gehabt, oder waren es die Reste einer Mahlzeit vom Beutelteufel? Zwar roch es auch nach etwas unbekanntem, was mich beunruhigte; als ich jedoch vor dem Brocken Känguruhfleisch stand, konnte ich nicht widerstehen und biß vorsichtig zu. Das Fleisch schien am Boden festzuhängen, und so versuchte ich, es mit einer Pfote freizuscharren. Unvermittelt sprang etwas aus dem Laub hervor und schnappte nach meinem Fuß, heftiger Schmerz durchfuhr mich, und ich machte einen großen Satz zur Seite." Heiner schaute unwillkürlich am Bein des Beutelwolfs herunter, während er dem Tier gebannt lauschte. "Das harte Ding ließ jedoch meinen Fuß nicht los, sondern folgte mir ein kurzes Stück; dann wurde ich zu Boden gerissen, und eine klirrende Kette straffte sich zwischen mir und dem nächsten Baumstamm – ich war gefangen! Ich erinnere mich nur noch, daß ich in panischer Angst so lange auf der Kette und den Eisenbügeln der Falle herumgebissen hatte, bis ich schließlich mein eigenes Blut schmeckte. Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung ein.

Tassie-Traum: GefangenAls der Morgen graute, weckte mich ein kräftiges Schnauben, ein riesiges dunkles Tier stand neben mir, und auf seinem Rücken saß ein Mensch. Ich versuchte fortzulaufen, doch wieder hielt mich die Kette zurück. Der Fallensteller stieg vom Pferd und betrachtete mich eine Weile; er ließ sich von meinem weit aufgerissenen Maul nicht abschrecken, sondern zog geschickt einen Sack über mich. Unvermittelt ließ der heftige Schmerz in meinem Bein nach, ich war von der Falle befreit. Obwohl das Pferd zunächst scheute und ängstlich schnaubte, wurde der Sack, in dem ich lag, an den Sattelknauf gehängt. Viele Stunden fühlte ich, wie ich hin- und herschaukelte und immer wieder gegen den Pferdekörper schlug; schließlich kamen wir zur Hütte des Pelztierjägers. Der sperrte mich in eine Kiste, in der ich stehen und mich etwas bewegen konnte, schob durch den schmalen Spalt eine Blechschüssel mit Wasser und gab mir ein frischtotes Kaninchen. Kaum entfernten sich die Schritte, versuchte ich mit Zähnen und Krallen aus meinem Gefängnis auszubrechen. Vergebens, die Kiste war solide gebaut und aus dicken Brettern zusammengefügt. Schließlich besiegten Hunger und Durst meine Furcht –, ich hatte mich dem Schicksal ergeben, trank und fraß. Sogar der Schmerz in meiner Pfote war kaum noch zu spüren, denn ich hatte die Wunde immer wieder beleckt. So verging einige Zeit in einer Art Dämmerzustand, nur unterbrochen vom Erscheinen des Trappers, der mit einer Holzlatte die beschmutzte Laubstreu aus meiner Kiste herauszog und durch frische Blätter ersetzte. Jeden Tag erhielt ich Wasser und ein Stück Fleisch, das ich meist sofort verschlang, denn ich war sehr ausgehungert. Das reichhaltige Nahrungsangebot stammte von den Tieren, die wie ich in die Fallen des Pelztierjägers geraten waren, meist Fuchskusus und kleinere Känguruhs."

Tassie-Traum: GefangenVöllig verstört wachte Heiner auf; er konnte sich nicht erinnern, jemals so lebhaft geträumt zu haben. Es schien ihm, als hätte er selbst an den Erlebnissen des Beutelwolfs teilgenommen. Da er beim Frühstück abwesend wirkte, fragte ihn seine Mutter, ob er nicht gut geschlafen habe, Heiner schüttelte nur den Kopf. Verwundert war auch die Lehrerin über seine Frage, wo denn Tasmanien liegen würde; doch nach der Stunde zeigte sie ihm bereitwillig die Insel auf dem Atlas. Am Nachmittag besuchten sie die Großeltern; Großvater freute sich über die Zeichnung seines Enkels, und es gab zur Belohnung ein besonders großes Stück Buttercrèmetorte. Kurz bevor Heiners Eltern aufbrechen wollten, gelang es ihm, den Großvater zur Seite zu nehmen: "Opi", frug er geheimnisvoll, "warst Du schon mal in Tasmanien?" Von Großvaters Erzählungen aus seiner Zeit bei der Handelsmarine wußte er, daß dieser sogar bis nach China gekommen war. Großvater verneinte. Auf seine Gegenfrage, weshalb er denn ausgerechnet auf Tasmanien komme, erhielt er jedoch eine ausweichende Antwort: "Ach, nur so, es interessiert mich einfach". Abends wurden noch rasch Schularbeiten gemacht und Heiner ging todmüde zu Bett, – doch die Erlebnisse des Beutelwolfs hatte er nicht vergessen ...

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