22.11.2004 - Träume vom Beutelwolf - Teil 4

Der dritte Traum: Im Zoo

Wieder versetzte ein Traum Heiner in das Naturkundemuseum, und er stand vor dem präparierten Beutelwolf. Er hatte überhaupt keine Scheu mehr vor dem Tier und wollte sogleich wissen, ob das Schiff, das ihn nach Europa brachte, auch in Südamerika Halt gemacht hatte, um Nahrung für die "Besatzung" und die Tiere zu "bunkern" (mit Stolz benutzte er die neuen Wörter), "und bist du in Bremen angekommen und dann mit der Eisenbahn nach Berlin gereist?" Unmerklich schien der Beutelwolf den Kopf zu schütteln: "Ich weiß nicht mehr, wo wir überall angelegt haben. Zunächst kam ich jedoch nach England, in den Zoo von London. Zuvor blieb unser Transport zwei Wochen im Hafengelände von Southampton, bis der Tierarzt sicher sein konnte, daß keiner von uns an einer Krankheit litt. Diese Quarantäne mußte zum Schutz der anderen Zootiere eingehalten werden, um sie vor einer möglichen Ansteckung zu bewahren. Endlich war die Zeit um, alle waren gesund, und am 9. April 1856 zogen wir um in die "Menagerie", den Zoo im Londoner Regent´s Park.
Die beiden Beutelteufel, die Beutelmarder, den Wombat und die Känguruhs hatte man rasch untergebracht, - die Kakadus waren nicht für den Zoo bestimmt. Mir widmeten die Angestellten und Tierpfleger keine besondere Aufmerksamkeit. Wie ich später erfuhr, kam nämlich schon sechs Jahre zuvor ein Paar Beutelwölfe in das Raubtierhaus, die sogenannten Terassenkäfige, in denen Großkatzen, Hyänen und Bären lebten. Da das Männchen bereits nach drei Jahren starb, hatte man mich als Partner für das Weibchen vorgesehen. Doch wir vertrugen uns nicht, und so steckte man mich in einen freien Käfig der Geiervoliere; das war eine Anlage für Geier und kleinere Greifvögel. Zum ersten Mal seit ich in Gefangenschaft geriet, konnte ich mich frei bewegen, - es war ein unbeschreibliches Gefühl, mehr als ein paar Meter laufen zu können. Ich lief, sprang und trabte in meinem neuen Gehege umher, beschnüffelte alles ausgiebig, grub in dem sandigen Boden einen alten Knochen aus, der dort wer weiß wie lange gelegen hatte, und beknabberte ihn. Der Tierpfleger, ein älterer Mann mit mächtigem Schnauzbart, beobachtete mich wohlwollend. Einmal in der Woche wechselte er das Stroh in meiner Hütte, und täglich reinigte er den Boden. Wenn er mein Gehege betrat, vermied er alle raschen Bewegungen, um mich nicht zu erschrecken.

Eines Tages setzte mein Pfleger eine lebende Taube zu mir in den Käfig, die sich einen Flügel verletzt hatte, - sofort erwachte mein Jagdtrieb, und mit einigen raschen Sätzen war ich bei dem Vogel. Doch dieser konnte noch recht gut fliegen, ich sprang ihm hinterher, erwischte aber nur ein paar Schwanzfedern. In etwa eineinhalb Meter Höhe waren zwei lange Äste zwischen den Seitengittern befestigt; die Taube hatte sich auf einen gesetzt und ruhte sich aus, dabei ließ sie mich nicht aus den Augen; ich starrte fasziniert zu ihr hinauf. Warten bis sie irgendwann herunterflog wollte ich nicht, dafür war die Aussicht auf eine so seltene Mahlzeit zu verlockend, und so nahm ich alle Kräfte zusammen und schnellte nach oben. Auf dem runden Ast fand ich keinen Halt, rutschte ab und fiel auf den Rücken –, doch die Taube hielt ich fest im Maul. Rasch war sie getötet; ich stemmte sie mit einer Pfote gegen den Boden und riß kleine Brocken heraus, selbst ihre Füße fraß ich auf, nur die langen Federn blieben übrig. Gespannt hatte mich der Wärter die ganze Zeit über beobachtet, und als einer der Wissenschaftler auf seiner Inspektionsrunde bei uns stehenblieb, berichtete er von meinen Sprungkünsten. Leider waren auch einige Zoobesucher Zeugen der Taubenjagd gewesen, sie beschimpften den Pfleger und nannten ihn einen Tierquäler –, nur weil er die Taube nicht selbst getötet hatte! Einer der Zuschauer mußte sich wohl auch bei der Direktion beschwert haben, denn ich erhielt keine lebenden Futtertiere mehr. Jenseits eines Seitengitters meiner neuen Behausung lebte ein großer Gänsegeier, meine Nachbarn auf der gegenüberliegenden Seite waren drei Rabengeier, die aus Kalifornien stammten. Während sich die schwarzen Vögel nicht weiter um mich kümmerten, folgte der Gänsegeier mit seinen hellen durchdringend blickenden Augen unentwegt meinen Bewegungen. Ich mochte ihn nicht, und die zukünftigen Ereignisse sollten mir Recht geben: Eines Tages zur Mittagszeit lag ich schläfrig in der warmen Sonne und döste, als ich plötzlich einen heftigen Schmerz am Schwanz verspürte. Blitzschnell fuhr ich mit geöffnetem Rachen nach hinten, doch der weiß befiederte Kopf des Gänsegeiers wurde durch den Maschendraht zurückgezogen. Das geschah so rasch, daß der Kopf mit dem langen Schnabel einen Augenblick verklemmte, und ich ihn um Haaresbreite erwischt hätte. Mein Schwanz blutete und tat sehr weh, doch durch fortwährendes Lecken schloß sich die Wunde bald wieder. Das sollte mir eine Lehre sein, und in Zukunft hielt ich gebührenden Abstand von meinem bissigen Nachbarn. Ein weiteres Erlebnis machte mir diesen Vogel noch unsympathischer. Statt des Hammelfleisches auf der Überfahrt bekam ich zerkleinerte Knochen und Muskelfleisch vom Pferd, dazu einmal pro Woche ein Huhn und manchmal sogar ein Kaninchen, das ich besonders gern mochte. Es war gerade "Kaninchentag", doch ich fraß nicht sofort das ganze Tier auf. Als ich in die Gehegeecke lief, wo der Wassertrog stand, um zu trinken, blieben Kopf und etwas Fell meiner Mahlzeit nahe am Zaun liegen. Leider zu nahe ..., denn auf diesen Augenblick schien mein Nachbar nur gewartet zu haben. Rasch wie eine Schlange fuhr der Kopf mit dem langen dünnen Hals durch das Gitter, und ehe ich mich versah, befanden sich die Reste meines Kaninchens im Nachbarkäfig, und der Gänsegeier zerrupfte sie genüßlich vor meinen Augen.

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